Magisches Schachmatt

von Michael Botticelli

Der Tisch sah aus wie eine verwüstete Ruinen-landschaft. In einigen Schalen lagen noch Chips, ein paar Erdnüsse, aufgeweicht in einem Gemisch von Cola und Selter. Auf einem Sessel befand sich ein einsamer pyramidenförmiger Würfel.

Gegenüber auf dem Sofa lag Martin, einen Haufen Zettel und einen Bleistift auf dem Bauch.

Am einige Schritte entfernten Schreibtisch saß Gianni, packte Karten, Zettel und Bücher zu einem wackeligen Turm. Beim Blick auf die seine Uhr entrann ihm ein leises Stöhnen.

"Hey Martin! Es ist schon nach drei Uhr früh!", rief er.

Martin erhob sich müde, die Zettel fielen auf den Boden. Er sah seinen Freund an und meinte: "Ist das ein Wunder? Nach drei Monaten Pause war dies die erste Rollenspielsession. Ich würde auf meinen Magier verzichten, wenn es nicht die absolut Beste war."

Ein leichtes Grinsen zeichnete sich auf Giannis Gesicht ab. Während er den Müll abzuräumen begann, meinte er: "Wenn du Promigos selbst bereist und den weisen Mal Grim kennengelernt hättest, würdest du das nicht sagen."

"Aber in meiner Phantasie hab` ich das getan!"

Einen Augenblick starte Gianni durch das Tablett mit den halbvollen Gläsern, es schien als wollte er etwas erwidern.

"Gib das Tablett her, du bist ja völlig fertig." sagte Martin.

Nachdem er den Tisch leergeräumt hatte - Gianni stand noch davor und blickte in unendliche Ferne - ging er zum Schreibtisch.

Noch bevor er den Stapel berührte, vernahm er einen lauten Schrei. "Faß das Zeug nicht an."

Martin zuckte zusammen. Dabei stieß er versehentlich gegen die Bücher. Ein Teil der Sachen fiel zu Boden. Darunter war auch eine vergilbte Karte, sie zeigte einen Teil von Promigos.

Gianni hastete an ihm vorbei und sammelte die Zettel auf. Schützend verbarg er sie hinter seinen verschränkten Armen.

Früher war er nicht so empfindlich, dachte Martin. Er verabschiedete sich von Gianni und machte sich auf den kurzen Weg nach Hause.

Er schlief ziemlich unruhig, konnte sich morgens aber an keinen Alptraum erinnern. Absolute Leere füllte ihn aus, als wäre er selber zwölf Stunden Spielleiter gewesen. Nachdem er drei Brote mit Schinken gegessen hatte und dazu einen Becher Tee getrunken hatte, fühlte er sich wieder besser.

Er hatte Sandra versprochen, nach ihrer Rückkehr aus Paris vorbeizukommen - ihr Flug sollte Freitagnacht ankommen - doch er mußte ja Samstag zu Gianni gehen. Immerhin hatte deswegen ein Teil von ihm - schwach - protestiert.

Als er vor Sandras Haustür stand und geklingelt hatte, rechnete er mit einer Standpredigt. Es dauerte einen Augenblick, ehe sich etwas regte.

"Einen Moment", rief eine helle Stimme, "ich komme gerade aus der Dusche."

Mit tippelnden Schritten näherte sich jemand der Tür, leise schnappend wurde das Schloß entriegelt und die Tür wurde geöffnet.

Sandra, nur mit einem Handtuch bekleidet, lächelte ihm entgegen.

"Komm `rein. Ich zieh mir schnell was an."

Sich aufs Sofa setzend dachte er über eine Ausrede für Sonnabend nach. Etwa, daß er noch für die Firma was erledigen mußte .

"Ich wollte gestern schon kommen, aber Gianni hatte angerufen und gefragt, ob wir `mal wieder `ne Session machen wollen. Er klang so aufgeregt und ich hatte nach einigen Monaten Abstinenz ein so großes Verlangen."

"Du hättest wenigstens anrufen können."

"Äh..., ja."

Sandra kam in sommerlicher Kleidung ins Wohnzimmer, in der linken Hand einen roten Umschlag. Mit ernster Miene sagte sie: "Cornelia war gestern hier."

"Nicht möglich! Die hab` ich seit der Schule nicht mehr gesehen. Und, was hat sie erzählt?"

Sandra setzte sich dicht neben ihn, sah in seine grauen Augen.

"Claudia ist tot. Ein Verkehrsunfall."

Martin mußte schlucken, er war früher in sie verliebt gewesen. Doch sie hatte ihm einen Korb gegeben. "Wann denn?", fragte er.

"Vor ungefähr einer Woche."

Für eine Minute herrschte völlige Stille. Martin nahm ihre Hand und drückte sie fest. "Laß uns ein wenig an die frische Luft gehen." meinte er. Sie zog sich eine Jacke über und folgte ihm nach draußen.

Als sie an einem Eis-Café vorbeikamen, fragte sie ihn: "Wollen wir nicht reingehen und einen schönen heißen Cappucino trinken?" Er nickte nur.

Nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatte, legte sie ihm den roten Umschlag hin. Er nahm ihn, öffnete ihn und zog den Inhalt heraus. Photos, dutzende, von Paris.

"Ich hab sie gestern früh zum Schnellservice gebracht.", erklärte sie, "Ich wußte ja nicht, daß du etwas Besseres zu tun hast, als mich zu besuchen."

Er sah sie ernst an und lächelte dann. Während er die Bilder ansah, kam der Kaffee.

Gelegentlich bemerkte sie etwas zu den einzelnen Fotos. Als sie schließlich gingen, hatte er seine Tasse nicht einmal halb leer getrunken.

Als sie sich wieder ihrer Wohnung näherten, fragte sie ihn nach der Session. Er erzählte ihr, wie gut Gianni seine Sache getan hätte und das sie alle viel Spaß gehabt hatten. Plötzlich hielt er inne.

"Verdammt, ich hab` meine Sachen in seiner Wohnung vergessen."

"Ihr trefft euch doch immer bei ihm. Wieso läßt du sie nicht einfach bei ihm ?"

"Weil ich noch an meinem Charakter arbeiten muß. Laß uns doch eben zu ihm gehen. Wann haben wir schon so tolles Wanderwetter?"

Sandra ließ sich überreden. Unterwegs redeten sie noch über ihre Reise nach Paris und den Erfolg, den ihre Firma auf der Messe hatte. Als sie bei Gianni läuteten, meldete sich niemand, auch nicht nach mehrfachen Läuten.

Martin versuchte die Tür zu öffnen, mit Erfolg.

"Mitunter ist er so tief in seine Arbeit versunken, daß er das Läuten nicht hört.", sagte er.

Doch in der Wohnung war niemand. Martin wollte gerade eine Notiz schreiben, als sein Blick auf ein Schachbrett fiel.

"Siehst du das Schachbrett?", fragte er.

"Klar! Die Figuren sehen ja ziemlich komisch aus, irgendwie gespenstig. Aber irgendwie sieht das Ganze auch hübsch aus."

"Es sind eigentlich Rollenspielfiguren. Er hat sie bloß schwarz und weiß bemalt. Kobolde und Zwerge als Bauern, Ritter als Springer und Zauberer als Könige.

Die Marmorplatte hat er aus Griechenland mitgebracht. Und den schwarzen Zauberer scheinbar auch."

"Der sieht ziemlich bedrohlich aus.", sagte sie und schmiegte sich etwas dichter an Martin.

"Und er ist böse. " antwortete Martin, "Ich bin ihm gestern begegnet, im Spiel. Beinahe hätte er uns alle getötet, doch meinem Magier ist ein listiger Trick eingefallen. Mit dem Zauberbuch des bösen Magiers könnte ich alles erreichen."

Sandra blickte die Figuren genauer an. "Der schwarze König, eh Zauberer, hat gar kein Zauberbuch!"

"Was?", rief Martin. Er nahm die Figur in die Hand und betrachtete sie genauer. Die linke Hand war beschwörend erhoben, und auch die rechte Hand hielt kein Buch. Es schien so, als hätte ihr jemand das Zauberbuch entrissen.

Er brauchte nur kurz zwischen den Büchern und Zetteln auf dem Schreibtisch zu suchen. Da lag es, ein dickes Buch mit vergilbten Ledereinband, an den Kanten leicht geschwärzt. Er nahm es vorsichtig in die Hand.

Sandras Schrei aus dem Wohnzimmer hörte er nicht mehr.

Sie hatte die Figur des schwarzen Zauberers gerade näher betrachtet, als sie sich veränderte. Deutlich konnte sie Martins Gesicht erkennen, ein listiges Grinsen auf den Lippen.

Wenn sie ihren Blick nur ein wenig nach links gewandt hätte, hatte sie auch gewußt, wo sich der Hausherr befand.

Der weiße Ritter zielte gnadenlos auf den schwarzen Zauberer, der von seinen eigenen Leuten in seinem Angriff behindert wurde.

 

Westerhorn, den  01. März 1993