Die Novelle von der Purpurnen Ratte

von Michael Botticelli

Pronovel

Vor einiger Zeit hatte ich ein seltsames Erlebnis, daß mein ganzes Leben vollständig verändert hat. Ich hatte schon oft merkwürdige Geschichten gehört und viele möchte ich, lieber Zuhörer als bloße Hirngespinste abtun.
Doch den Bericht über Hash fand ich nicht bloß erschreckend faszinierend, nein, er hat mich sehr bewegt und in mir viele Fragen aufgeworfen.
Die Geschichte, die ich gleich erzählen werde, hat sich tatsächlich so zugetragen. Ich habe viele Verwandte und Bekannte von Hash dazu befragt. Trotz ihrer unterschiedlichen Sichtweisen bestätigen sie mir mein Gefühl über das Geschehene.

Hört nun meine Sicht der Dinge.

chlup, chlup, . . . .

Die Ratte Hash

Once upon a time da war mal eine purpurne Ratte. Die Gegend, in der sie ihre Kindheit und ihre frühe Jugend verbrachte liegt irgendwo im Norden, östlich eines breiten, schmutzigen Flusses. Hash`s Oma war die einzige Ratte, die sich nicht an der merkwürdigen Färbung des Felles störte. Sie erzählte, wie abwechslungsreich das Wetter früher einmal war. Doch Hash hörte bei diesen Geschichten nie richtig zu.
Eines Nachts war plötzlich alles ganz anders; Oma war so furchtbar ernst und sah sich ständig um. Eine Weile sah sie Hash in die Augen, aufs Fell und wieder in die Augen. Endlich sagte sie etwas, nachdem sie sich nochmal vergewissert hatte, daß keine Ratte in der Nähe war; außer Hashs kleinster Schwester, sie war ja erst eine Nacht alt.
Mit ernster Miene begann Oma von den Alten zu erzählen, die ganz zu Anfang gelebt hatten, als die Welt noch in ihren besten Jahren war, und von den Voraussagungen, die sie gemacht hatten.
Sie wußten von den schlechten Zeiten, von der Herrschaft der Langstelzer und auch von dem Monowetter. All diese Prophezeiungen kannte jede Ratte. Doch wovon Oma diesmal erzählte, hatte Hash noch nie etwas gehört, die meisten aus der generation nach Oma wußten zwar davon, doch nur ein winziger Teil hielt es für wichtig genug, um es an die folgende Generation weiterzugeben.

Sie gab die Worte des großen Veggente wörtlich wider:
"Am Ende der Zeit der Monostelzer wird eine Ratte geboren, die in ihrem Innersten völlig anders ist als wir. Am Ende ihrer Kindheit wird sich ihre Verschiedenheit innerlich wie äußerlich deutlich zeigen. Allein wird sie auf Wanderschaft gehen und nach einem langen Weg wird sie Kontakt finden zu einem Langstelzer. Durch das abrupte Abbrechen dieser Freundschaft wird das Ende der Herrschaft der furchtbaren Langstelzer eingeleitet und die Welt wird auf ihre alten Tage noch ein letztes Mal aufatmen können."

An der folgenden Zeit fand Hash kaum Schlaf, Freunde und Geschwister hörten überhaupt nicht auf zu hänseln und, was noch wirklich schlimm war, zu treten und zu schubsen. Sogar die Eltern taten beschäftigt, wenn Hash vorbeikam, und verschwanden irgendwohin. Die Ratte gab es sehr bald auf, ihnen hinterherzurennen. Es war unmißverständlich klar, daß keiner etwas mit der purpurnen Ratte zu tun haben wollte.
Hash machte sich auf den langen, weiten Weg.

chlup, chlup, . . . .

Korto war zufrieden, endlich einmal Urlaub vom Monowetter, endlich einmal Erholung vom Daueralltag, endlich mal Wiedersehen mit der inneren Heimat. Er war mit seinem Vater unterwegs vom Norden, nördlich eines breiten, schmutzigen Flusses, nach Süden, westlich der Mitte des Stiefels.
Nur kurze Zeit nach dem Start mußten sie, auf Kortos Drängen hin, eine kleine Rast einlegen. Als dieser sich hüpfend in die Büsche schlug, um dringend sein Geschäft zu erledigen, sah er eine merkwürdige Ratte. Um sie dichter heranzulocken, warf er ihr ein Stück von seiner Mandarine hin. Tatsächlich kam sie näher, um genüßlich das saftige Mal zu verspeisen.
Während der weiten Reise vergaß Korto diese Begegnung völlig. Bei ihrer Ankunft begannen Vater und Sohn gleich ihr Gepäck ins Althüttlein zu bringen. Bereits Pläne schmiedend für ihren kurzen Aufenthalt, übersahen sie ihren blinden Mitfahrer gänzlich, zu dessen Glück darf man sagen.
Nachdem man die primären Verwandten und Freunde kurz besucht hat, legte man sich zum Abend früh in die Betten. Vor Freude alte Freunde endlich wiedergesehen zu haben und endlich wieder in der inneren Heimat zu sein, gelang es Korto nicht gleich in geruhsamen Schlaf zu fallen.
So kam es dann, daß unser junger Freund den blinden Mitfahrer beim Einzug in die für ihn neue Wohnung belauschte. Manchmal hörte es sich fast so an, als würde jemand mit hoher Geschwindigkeit über den Dachboden jagen und dabei über etwas stolpern. Es war schon bald wieder morgen, als Korto endlich einschlief.
Die ersten Tage vergingen wie im Fluge und Korto dachte nicht mehr an die Geräusche in der ersten Nacht. Als sie vollbepackt vom Markt wiederkamen, begegnete Korto erneut einer merkwürdigen Ratte. Er war gerade dabei, die Verpflegung im Kühlschrank zu verstauen, als er eine purpurne Ratte über den Küchenboden laufen sah. Ohne nachzudenken nahm er eine von  den gerade gekauften Mandarinen und warf sie der Ratte zu. Diese blieb stehen, näherte sich vorsichtig und begann hastig zu fressen.

"Das scheint dir ja zu schmecken, du Biest. Bist du etwa das gleiche Mistvieh, daß mir damals auf der Reise in die Quere gekommen ist?"

chlup, chlup, . . . .

Hash sah den Langstelzer lange tief in die Augen. Ausgerechnet ein Langstelzer scheute den Kontakt nicht, eventuell war sogar eine Freundschaft nicht unmöglich. Die purpurne Ratte hatte den Sinn der Worte nicht ansatzweise verstanden, doch der Ton, in dem sie gesprochen wurden, gefiel ihr; die Stimme weckte sogar tiefergehende Gefühle in ihr. Ausgerechnet in diesem Augenblick mußte der andere Langstelzer auftauchen. Nicht nur, weil dieser viel größer war, flüchtete Hash, sondern vor allem, weil er ein Hinrichtungsgerät in seiner Hand hielt, ein Gerät mit dem schon Millionen freier, unverschuldeter Ratten niedergemetzelt wurden.
An den folgenden Tagen zog es die Ratte vor, die Gegend zu erkunden; sie war sich noch nicht sicher, ob der kleine Langstelzer dem großen von seinem greulichen Plan abbringen konnte.
Während dieser Streifzüge durch die erfrischend grüne Natur begegnete Hash einer wunderschönen Ratte. Eine Geste ergab die andere und als das Ritual zur Zufriedenheit beider beendet war, führte die Purpurne die Graue zu dem Ort, wo sie gemeinsam ihren Nachwuchs aufziehen wollten.
Einige Nächte später, Hash war dem kurzen Langstelzer noch nicht wieder begegnet, bekam die Purpurne plötzlich Heißhunger. Ohne zu überlegen lief sie hinunter in die Wohnräume der Langstelzer. Schnell fand sie das offene Gefäß, in dem die Mandarinen lagerten, und stürzte sich darauf.
Von ihrer Freßsucht betäubt, bemerkte sie den großen Langstelzer, der sich mit dem Hinrichtungsgerät angeschlichen hatte, viel zu spät. Das letzte, was Hash noch hörte, war die wunderbare Stimme des kurzen Langstelzers. Der Wortlaut war ungefähr so:

"Mahschialle!"

chlup, chlup, . . . .

Epinovel

Liebe Zuhörer, ihr werdet jetzt sicherlich sagen, daß wir uns doch keine Sorgen machen brauchen, das sich etwas ändern werde. Schließlich hatte die purpurne Ratte Hash keine leiblichen Nachkommen.
Ich gebe euch recht, doch bedenkt, daß der große Veggente vielleicht nicht leibliche, sondern geistige Erben meinte.
Ich, Stefan Re, sage euch, die Herrschaft der Langstelzer ist nun zu Ende. Wir, die geistigen Erben Hashs, übernehmen jetzt wieder die Herrschaft.

um 1991/92